{"phaenomen":{"titel":"„Dativpassiv” (<i>kriegen</i>-Passiv)","phid":"6","author":"Lenz, Alexandra N.","kurzbeschreibung":"<p class="bodytext">Beim sogenannten „Dativpassiv” handelt es sich um eine Passivkonstruktion des Deutschen, die aus den Auxiliaren <i>kriegen</i>, <i>bekommen </i>und seltener <i>erhalten </i>in Verbindung mit dem Partizip II eines Vollverbs besteht. Die Bezeichnung „Dativpassiv” referiert auf die Tatsache, dass dem Subjektsreferenten der Passivkonstruktion (in der Regel!) – s. das Beispiel in (1) – der Dativreferent eines korrespondierenden Aktivsatzes – s. das Beispiel in (2) – entspricht.</p><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(1)</span> <i>Er bekommt vom Gesangsverein einen Orden überreicht.</i></p></div><div class="indent"></div><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(2)</span> <i>Der Gesangsverein überreicht ihm<b> </b>einen Orden.</i></p></div>","detailbeschreibung":"<p class="bodytext">Von standardsprachorientierten Nachschlagewerken wird das Dativpassiv (zumindest mit den Auxiliaren <i>bekommen</i> und<i> erhalten</i>) mittlerweile als normkonforme Passivkonstruktion anerkannt, allerdings unter Verweis auf einige semantisch-syntaktische Restriktionen:&nbsp;</p><p class="bodytext">Besonders frequent sind „<b>handlungs- </b>oder <b>tätigkeits</b>bezeichnende Verben mit personalem K<sub>dat</sub> in der Rolle des Rezipienten und zusätzlichem K<sub>akk</sub>” (Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997: 1824; Fettdruck im Original), bei denen man nach Leirbukt (1997: 229) „eine endliche Anzahl von Bedeutungskomplexen mit der Haben-Relation als Bestandteil ansetzen kann: Es geht um deren Veränderung (in Richtung Geben oder Nehmen) oder aber um deren explizite Nicht-Veränderung (letzteres bei Intransformativa: Verben des Belassens, Verweigerns oder Verbergens)”.</p><p class="bodytext">Neben der alternativen Bezeichnung „Rezipientenpassiv”<i> </i>wird das Dativpassiv in der Forschungsliteratur mitunter auch als „Adressaten<i>”</i>- oder <i>„</i>Benefizientenpassiv<i>” </i>bezeichnet (vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997, Askedal 1984, Leirbukt 1997, Glaser 2005, Askedal 2005, Lenz 2013b). Die Bezeichnungen deuten auf die zentrale Funktion der Passivkonstruktion hin, die darin besteht, gerade das Argument mit der semantischen Rolle eines Rezipienten, Adressaten oder Benefizienten in Subjektposition zu rücken, s. (3) bis (5). Auch wenn – zumindest in einigen nicht-standardsprachlichen Varietäten des Deutschen – der Subjektsreferent des Dativpassivs mitunter die Rolle eines Malefizienten einnehmen kann, s. (6), ist die Bezeichnung <i>„</i>Malefizientenpassiv<i>” </i>in der Forschungsliteratur bislang nicht gebräuchlich. (Randbemerkung: Wie die Bezeichnungen <i>„</i>Rezipientenpassiv<i>” </i>und <i>„</i>Benefizientenpassiv<i>” </i>nur bedingt passend erscheinen, da sie nur auf ausgewählte semantische Rollen Bezug nehmen und damit der schon fortgeschrittenen Grammatikalisierung der Konstruktion nur unzureichend Rechnung tragen, ist gerade mit Blick auf Dialektregionen, in denen kein Dativ existiert, auch die Bezeichnung „Dativpassiv” irreführend.) </p><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(3)</span> <i>Wi hebbt dat schenkt krÄ“gen. </i>(Hamburgisches Wörterbuch II: 1277)<i><br /></i>wir haben das geschenkt gekriegt <br />'Das wurde uns geschenkt.'<i><br /></i></p></div><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(4)</span> <i>Ich hab gerufe kricht. </i>(FFWB III: 1622)<br />ich habe gerufen gekriegt <br />'Ich wurde gerufen.'</p></div><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(5)</span> <i>Wenn der Staat sich nicht bald dahintergibt, dass wir da geholfen<br />kriegen. </i>(Oberbettingen, ZWI54)<br />'[...], dass uns da geholfen wird.'</p></div><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(6)</span> <i>Gleich krisde de Asch gehaach. </i>(MHWB: 265)<i><br /></i>gleich kriegst du den Arsch gehauen<br />'Gleich wird dir der Arsch gehauen.'</p></div><p class="bodytext">Die Passivierung von Verben ohne Akkusativkomplement wird aus standardsprachlicher Normperspektive nach wie vor abgelehnt:&nbsp;</p><div class="indent"><p class="bodytext">In der Fachliteratur wird die Bildung des <i>bekommen</i>-Passivs von intransitiven dativregierenden Verben (<i>helfen</i>, <i>applaudieren</i>, <i>danken</i>, <i>drohen </i>usw.) als eine systematische Möglichkeit erwähnt. Es handelt sich jedoch dabei um eine regionale, nicht allgemein akzeptierte Erscheinung, die im Wesentlichen in der gesprochenen Sprache begegnet […]. (Duden Grammatik 2016: 564)</p></div><p class="bodytext">Belege wie (5) zeigen aber, dass zumindest in einigen nicht-standardsprachlichen Varietäten des Deutschen (wie in Teilen des SyHD-Areals) auch Verben mit einem personalen Dativkomplement wie <i>helfen </i>als Vollverben des Dativpassivs auftreten (vgl. auch Lenz 2008 und 2009). Dominierend sind in der Gegenwartssprache aber varietätenübergreifend und insbesondere in standardschriftsprachlichen Kontexten Dativpassive mit&nbsp;</p><div class="indent"><p class="bodytext">prototypischen Verben mit Dativ- und Akkusativobjekt – Verben des Gebens, Nehmens, Mitteilens, Verbergens oder des Gegenteils […]. Aus den erwähnten Restriktionen folgt: Passivsätze, die mit <i>bekommen </i>(<i>erhalten</i>, <i>kriegen</i>) gebildet sind, enthalten (fast) immer ein Akkusativobjekt. Sie unterscheiden sich dadurch grundsätzlich von anderen Passivsätzen […]. (Duden Grammatik 2016: 563–564) </p></div><p class="bodytext">Als Auxiliare des Dativpassivs kommen im Deutschen <i>kriegen </i>und <i>bekommen</i>, seltener auch <i>erhalten </i>in Frage, deren Konkurrenz areal-horizontalen, sozial-vertikalen, medialen (schriftlichen vs. mündlichen) sowie auch syntakto-semantischen Steuerungsparametern unterliegt (vgl. Lenz 2013a). Dabei ist <i>erhalten </i>nicht nur das Auxiliar, das auf „gehobene”, in der Regel schriftsprachliche Kontexte beschränkt ist, sondern sich auch durch einen niedrigeren Grammatikalisierungsgrad auszeichnet, der etwa darin zum Ausdruck kommt, dass es nicht mit deprivativen Vollverben verknüpft werden kann, s. (7). Während <i>kriegen </i>weitgehend (zu Ausnahmen s. Lenz 2013a) das Auxiliar dialektaler Dativpassive darstellt, konkurriert es mit <i>bekommen </i>in mehr regiolektalen Varietäten. Letzteres ist hingegen das „neutrale”, unmarkierte Auxiliar in standardsprachlichen Kontexten.</p><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(7)</span> <i>Er kriegt/bekommt/*erhält seinen Führerschein entzogen</i>.</p></div>","ergebnisse":"<p class="bodytext">Die Tatsache, dass alle drei indirekt<b> </b>erhobenen Bildergeschichtsbeschreibungen hohe Frequenzen von Dativpassiven evoziert haben (s. u. (11)), stützt die These, dass weite Teile der hessischen Dialektlandschaft zur arealen Kernregion des Dativpassivs gehören. Die Frequenzen von Dativpassiven – die fast ausschließlich mit dem Auxiliar <i>kriegen </i> gebildet werden – liegen zwischen 50% und 75%. Konkurrenzkonstruktionen sind gerade in den Beschreibungen der Bildergeschichten „<b id="docs-internal-guid-2ffeee42-0da6-c730-adfe-f54e0286a105" style="font-weight: normal;"><span style="color: rgb(0, 0, 0); font-family: Arial; font-size: 13.33px; font-style: normal; font-variant: normal; font-weight: 400; text-decoration: none; vertical-align: baseline; white-space: pre-wrap; background-color: transparent;"></span></b>Wasser einschenken” und „<b id="docs-internal-guid-2ffeee42-0da6-c730-adfe-f54e0286a105" style="font-weight: normal;"><span style="color: rgb(0, 0, 0); font-family: Arial; font-size: 13.33px; font-style: normal; font-variant: normal; font-weight: 400; text-decoration: none; vertical-align: baseline; white-space: pre-wrap; background-color: transparent;"></span></b>Zahn ziehen” eher selten. Im Falle der dritten Bildergeschichte „Banane wegnehmen” sind es vor allem Aktivkonstruktionen (ca. 32%) und unter diesen solche, in denen nicht die Hauptfigur, sondern ein agentivisch handelnder Dritter als Subjektsreferent verbalisiert wird wie in (8). Seltener (ca. 18%) konkurriert hingegen ein Vorgangspassiv, s. (9), mit dem <i>kriegen</i>-Passiv, s. (10).</p><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(8)</span> <i>Dem nimmt oaner seu Banan ab. </i>(Modautal_Ernsthofen_1)<br />dem nimmt einer seine Banane weg</p></div><div class="indent"></div><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(9)</span> <i>Dem werd de Banan obgenomme.</i> (Großenlüder_Müs_4)<br />dem wird die Banane abgenommen</p></div><div class="indent"></div><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(10)&nbsp;</span> <i>Dä Mann gred de Banan obgenomme</i>. (Hünfeld_Michelsrombach_1)<br />der Mann kriegt die Banane abgenommen <br />'Dem Mann wird die Banane abgenommen.'</p></div><p class="bodytext">[[(11) Dativpassiv (indirekte Erhebung): „(Wasser) einschenken” vs. „(Zahn) ziehen” vs. „(Banane) wegnehmen”:: E1_05 E2_17 E1_20]]</p><p class="bodytext">Die Tatsache, dass die Bananengeschichte (E1_20), s. (11), deutlich weniger <i>kriegen</i>-Passive evozierte, stützt zum einen die These, dass deprivative Verben des Wegnehmens insgesamt schlechtere Vollverbkandidaten des Dativpassivs darstellen als Transferverben in Richtung auf den Rezipienten, wie <i>einschenken </i>eines ist (z.B. <i>er kriegt Wasser (in sein Glas) eingeschenkt</i>). Was die semantischen Rollen des Subjektsreferenten betrifft, können aus dem Vergleich der drei Karten folgende Schlüsse gezogen werden: Die Bildergeschichte mit einem prototypischen Rezipienten, der auch als Benefizient der Wassereinschenken-Aktion interpretiert werden kann, erreicht die höchsten Frequenzen an Dativpassiven, während die Wegnehmen-Szene, in der die Hauptfigur sichtlich entrüstet ohne Banane zurückbleibt, die niedrigsten Belege evoziert. Weniger eindeutig ist die semantische Rolle der Hauptfigur bei der Bildergeschichte „Zahn ziehen” zu fassen. Einerseits verliert sie ein zu ihrer physischen Kontrolldomäne gehöriges Objekt, einen Zahn, geht aber andererseits offensichtlich erleichtert, weil nun schmerzfrei, aus dieser Aktion hervor.&nbsp;</p><p class="bodytext">Aber nicht nur die Frequenzen der Dativpassive im Kartenvergleich, sondern auch die regionale Verteilung der Konkurrenzvarianten gehen mit bisherigen Ergebnissen aus der Forschung konform: Es ist gerade der nördliche Teil des SyHD-Areals (inklusive der nördichen Punkte des Hessischen Gürtels), in dem die Differenzen zwischen den drei Karten am deutlichsten zum Vorschein kommen. Mit Blick auf die Bildergeschichte „Banane wegnehmen” dünnt sich das Dativpassivareal zusätzlich im östlichen SyHD-Areal aus.&nbsp;</p><p class="bodytext">In der direkten<b> </b>Erhebung liegen die Frequenzen an Dativpassiven zwischen 25% und 85%. Die niedrigsten Frequenzen an <i>kriegen</i>-Passiven erreicht dabei das Video „am Ohr ziehen”, in dem die Hauptfigur als Malefizient einer nicht-transferentiellen Handlung dargestellt wird. Während die Szenenbeschreibungen zu diesem Video in nur knapp 26% der Fälle ein Dativpassiv aufweisen, evoziert das Video „Banane wegnehmen”, in dem ein Malefizient einer Transferaktion auftritt, immerhin zu knapp 53% <i>kriegen</i>-Passive, s. (12). Die höchsten Frequenzen erreicht hingegen das Video „Haare schneiden”, in der die Hauptfigur als Benefizient einer Dienstleistung hervorgeht, s. u. (17).</p><p class="bodytext">[[(12) Dativpassiv (direkte<b> </b>Erhebung): „(Banane) wegnehmen” vs. „(am Ohr) ziehen”:: DP_02 DP_26]]</p><p class="bodytext">Nicht nur die Frequenzen des Dativpassivs erweisen sich als interessant, sondern ebenso auf die Konkurrenzvarianten: Denn gerade die Videos „Blumentopf überreichen”, „Brille aufsetzen” und „Kaffee einschenken” können auch mittels einer „geeigneten” Aktivkonstruktion beschrieben werden (s. die Beispiele in (13) bis (15) bzw. die Karten in (16)), in der die Hauptfigur als Subjektsreferent und Topik verbalisiert werden kann, ohne dass alternativ auf eine komplexere Passivkonstruktion ausgewichen werden muss. (Beim Video „Haare schneiden” (s. (17)) wurde von dieser Möglichkeit kein Gebrauch gemacht; Beschreibungen wie <i>er kriegt einen Haarschnitt</i> sind nicht belegt.)&nbsp; </p><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(13)</span> <i>Da Mann kritt a Blümmetibbe</i>. (Niederaula_Mengshausen_4)<br />der Mann kriegt einen Blumentopf</p></div><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(14)</span> <i>Der kricht e nau Prüll</i>. (Steinau an der Straße_Hintersteinau_4)<br />der kriegt eine neue Brille</p></div><div class="indent"></div><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(15)</span> <i>Der hot Tee gekricht</i>. (Lautertal_Engelrod_6)<br />der hat Tee gekriegt</p></div><p class="bodytext">[[(16) Dativpassiv (direkte Erhebung): „(Blumentopf) reichen” vs. „(Brille) aufsetzen” vs. „(Kaffee) einschenken”:: DP_07 DP_12 DP_29]]</p><p class="bodytext">[[(17) Dativpassiv (direkte Erhebung): „(Haare) schneiden”:: DP_17]]</p><p class="bodytext">Auch wenn die Möglichkeit einer vergleichbaren Aktivkonstruktion beim Video „(beim Aufstehen) helfen” theoretisch gegeben ist (<i>er kriegt Hilfe (beim Aufstehen)</i>), machen die SyHD-Informanten seltenst davon Gebrauch. Die Mehrheit der Aktivkonstruktionen, die zur Videobeschreibung herangezogen wurden, verbalisiert den Hauptdarsteller in Form eines Dativobjekts, s. (18). Immerhin gut 53% der Szenenbeschreibungen zur Helfen-Aktion beinhalten aber ein Dativpassiv, s. (19), das wiederum im Norden des SyHD-Areals selten bis gar nicht vertreten ist.&nbsp;</p><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(18)</span> <i>Et kimmet einer un hilpet em upstan.</i> (Bad Arolsen_Wetterburg_4)<br />es kommt einer und hilft ihm aufstehen</p></div><div class="indent"></div><div class="indent"><p class="csc-frame-frame1"><span class="grayleft">(19)</span> <i>Der Moh kricht beim uffstieh geholfe.</i> (Tann_Günthers_2_)<br />der Mann kriegt beim Aufstehen geholfen <br />'Dem Mann wird beim Aufstehen geholfen.'</p></div><p class="bodytext">[[(20) Dativpassiv (direkte Erhebung): „(beim Aufstehen) helfen”:: DP_22 ]]</p><p class="bodytext">Im Vergleich von direkter und indirekter Erhebung auf Basis der Bildergeschichten einerseits und Videoclips andererseits zeigen sich erstaunliche Parallelen, die sowohl quantitativ als auch qualitativ zum Ausdruck kommen (vgl. hierzu ausführlicher Lenz 2016). Mit Blick auf die in beiden Erhebungsrunden eingesetzten Szenen – „Getränk einschenken” bzw. „Banane wegnehmen” – evoziert die direkte Erhebung jeweils nur leicht höhere Anteile an Dativpassiven. Was die areale Verteilung der <i>kriegen</i>-Passive betrifft, ergeben sich ebenfalls recht ähnliche Kartenbilder mit der Einschränkung, dass areale Raumbilder im Falle der indirekten Fragebogenerhebung aufgrund der deutlich höheren Informantenzahl sich viel deutlicher herauskristallisieren als bei der direkten Erhebung, bei der ein Ortspunkt durch nur einen Informanten wiedergegeben ist.</p><p class="bodytext">In Ergänzung zum Videoclip „(beim Aufstehen) helfen” wurde das Dativpassiv mit dem Dativverb <i>helfen</i> im Rahmen einer indirekt eingesetzten Bewertungsaufgabe abgefragt. Die Ergebnisse sind in (21) einzusehen. Werden die Informanten zur Bewertung von explizit vorgegebenen <i>kriegen</i>-Passiven mit <i>helfen</i> konfrontiert (z.B. <i>Un hoste geholfen krecht?</i>), erhöht sich der Anteil „möglicher” <i>kriegen</i>-Passive deutlich gegenüber den im Produktionsexperiment wirklich realisierten Dativpassiven, s. (20). Auch die Arealstrukturen (weniger Dativpassive im Norden) treten bei der indirekt und bei viel mehr Informanten erhobenen Bewertungsaufgabe deutlicher hervor.</p><p class="bodytext">[[(21) Dativpassiv (direkte Erhebung): „helfen”:: E2_12]]</p><p class="bodytext">Insgesamt erweist sich das Dativpassiv als ein im SyHD-Areal weit verbreitetes Phänomen mit areal leicht differierenden Grammatikalisierungsgraden. Dabei ist der auch standardsprachlich unmarkierte Typ eines Dativpassivs mit Ditransitiva des Erhaltens im gesamten Untersuchungsgebiet dialektal vorhanden, während weniger prototypische Konstruktionsvarianten (mit Dativverben bzw. Verben der Deprivation bzw. mit Malefizienten-Subjekt) besonders deutlich in den niederdeutschen Ortspunkten und weniger offensichtlich auch im östlicheren SyHD-Areal niedrigere Gebrauchsfrequenzen bzw. niedrigere Akzeptabilitätswerte erreichen. Über die linguistischen Ergebnisse hinaus lassen sich gerade auf Basis der SyHD-Befunde zum Dativpassiv Evidenzen für die Validität beider methodischen Ansätze (direkte und indirekte Methode) ableiten. Zu einer ausführlicheren Methodendiskussion sei auf Lenz 2016 verwiesen. </p><div></div>","erlaeuterung":"<p class="bodytext">In SyHD wurden insgesamt elf Aufgaben zur Evozierung von Daten zum Dativpassiv verwendet, von denen vier in der indirekten Fragebogenerhebung und sieben weitere in der direkten Erhebung zum Einsatz kamen.</p><p class="bodytext"> Im Fragebogen wurden drei Bildergeschichten und eine Bewertungsaufgabe eingesetzt, während die Daten der direkten Erhebung allesamt auf Videoclip-Beschreibungen basieren. Bei der Erstellung der Bildergeschichten sowie der Videoclips war die Darstellung bestimmter Handlungs-Frames intendiert, in deren Verlauf die jeweils dargestellte Hauptperson eine bestimmte semantische Rolle einnehmen sollte, die erstens auch von den Informanten als solche erkannt und zweitens im Rahmen einer Szenenbeschreibung auch als solche verbalisiert werden sollte (vgl. Lenz 2008, 2009, 2016).</p><div class="indent"><p class="bodytext"> Das primäre Ziel der dargestellten Kurzgeschichten ist es jeweils, die Hauptperson in einer bestimmten semantischen Rolle darzustellen, die in einem Aktivsatz prototypischerweise von einem Komplement im Dativ bzw. in einem Rezipientenpassivsatz vom Subjekt getragen werden kann (z.B. Rezipient, Benefizient, Malefizient). Diese thematisch-semantische Rolle der Hauptperson wird aber erst durch einen konkreten Handlungs<i>verlauf</i> emergent, in dessen Rahmen der Person etwas gegeben oder weggenommen wird, ihr etwas widerfährt und sie selbst diese Situationsveränderung als positiv oder negativ wahrnehmen kann oder ihr neutral gegenübersteht. (Fleischer/Kasper/Lenz 2012: 20; Kursivsetzung im Original) </p></div><p class="bodytext">Die Informanten hatten jeweils die Aufgabe – in der direkten Erhebung mündlich bzw. in der indirekten Erhebung schriftlich –, die Frage <i>Was passiert mit dem Mann?</i> in einem Satz und auf Platt/Dialekt zu beantworten. Die explizite Fragestellung hatte das Ziel, erstens den Wahrnehmungsfokus der Informanten auf die im Zentrum stehende Hauptperson und ihre thematische Rolle im Geschehen zu lenken, um damit implizit die thematische Rolle der Hauptfigur als Topik der Szenenbeschreibungen vorzugeben. Erwartet wurde dabei, dass ein prototypischer Rezipient, der auch gleichzeitig als Benefizient einer konkreten Transferaktion fungiert, häufiger mittels eines Dativpassivs verbalisiert wird als der Malefizient einer Handlung, der als unglücklicher „Verlierer” aus einer Transferaktion hervorgeht. Bezogen auf die dargestellten Handlungen heißt das, dass etwa die Szene „Überreichung eines Blumentopfs” höhere Frequenzen eines <i>kriegen</i>-Passivs evozieren sollte, als die Szene „Wegnehmen einer Banane”. </p><p class="bodytext">Neben den mittels Bildergeschichten und Videoclips evozierten Szenenbeschreibungen wurde einmalig eine Bewertungsaufgabe im Rahmen der Fragebogenerhebung dargestellt, in der ein <i>kriegen</i>-Passiv mit dem Dativverb <i>helfen </i>abgefragt wurde, um auch der Frage nach Akzeptanz dieses umstrittenen Konstruktionstyps in den hessischen Dialekten nachzugehen. Die Darstellung einer Helfen-Aktion mittels Bildergeschichten erwies sich als höchst schwierig bis unmöglich. </p>","literatur":["<p class="bodytext">AdA = Atlas zur deutschen Alltagssprache (2003–). Herausgegeben von Stephan Elspaß/Robert Möller. [URL: <a href="http://www.atlas-alltagssprache.de/" target="_blank">www.atlas-alltagssprache.de</a>]</p>","<p class="bodytext">Askedal, John Ole (1984): Zum kontrastiven Vergleich des sogenannten „<i>bekommen/erhalten/kriegen</i>-Passivs” im Deutschen und entsprechender norwegischer Fügungen aus få und dem Partizip Perfekt. In: Norsk Lingvistisk Tidsskrift 2: 133–166.</p>","<p class="bodytext">Askedal, John Ole (2005): Grammatikalisierung und Persistenz im deutschen „Rezipienten-Passiv” mit bekommen/kriegen/erhalten. In: Leuschner, Torsten/Tanje Mortelmans/Sarah De Groodt (Hgg.): Grammatikalisierung im Deutschen. (Linguistik. Impulse und Tendenzen 9): 211–288. Berlin/New York: De Gruyter.</p>","<p class="bodytext">Bucheli Berger, Claudia (2005): Passiv im Schweizerdeutschen. In: Christen, Helen (Hg.): Dialektologie an der Jahrtausendwende. (Linguistik online 24, 3/05.) [URL: &lt;http://www.linguistik-online.de/24_05/bucheli.html&gt;]</p>","<p class="bodytext">Duden (2016): Duden. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch. 9., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. (Duden 4.) Mannheim/Wien/Berlin: Dudenverlag.</p>","<p class="bodytext">Eroms, Werner (1978): Zur Konversion der Dativphrasen. IN: Sprachwissenschaft 3, 357–405.</p>","<p class="bodytext">FFWB = Frankfurter Wörterbuch (1971–1988). Aufgrund des von Johann Joseph Oppel und Hans Ludwig Rauh gesammelten Materials herausgegeben vom Institut für Volkskunde der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main in Verbindung mit der Frankfurter Historischen Kommission von Wolfgang Brückner. Frankfurt am Main: Kramer.</p>","<p class="bodytext">Fleischer, Jürg/Simon Kasper/Alexandra N. Lenz (2012): Die Erhebung syntaktischer Phänomene durch die indirekte Methode: Ergebnisse und Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt „Syntax hessischer Dialekte” (SyHD). In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 79/1: 1–42.</p>","<p class="bodytext">Glaser, Elvira (2005): Krieg und kriegen: zur Arealität der BEKOMMEN-Periphrasen. In: Kleinberger Günther, Ulla/Annelies Häcki Buhofer/Elisabeth Piirainen (Hgg.): „Krieg und Frieden”– Auseinandersetzung und Versöhnung in Diskursen: 43–64. Tübingen: Francke.</p>","<p class="bodytext">HambWB = Hamburgisches Wörterbuch (1985–2006). Auf Grund der Vorarbeiten von Christoph Walther und Agathe Lasch herausgegeben von Jürgen Meire und Dieter Möhn. Bearbeitet von Beate Hennig, Jüren Meier und Jürgen Ruge. 5 Bände. Neumünster: Wachholtz.</p>","<p class="bodytext">Leirbukt, Oddleif (1997): Untersuchungen zum bekommen-Passiv im heutigen Deutsch. (Reihe Germanistische Linguistik 177.) Tübingen: Niemeyer.</p>","<p class="bodytext">Lenz, Alexandra N. (2007): Zur variationslinguistischen Analyse regionalsprachlicher Korpora. In: Kallmeyer, Werner/Gisela Zifonun (Hgg.): Sprachkorpora. Datenmengen und Erkenntnisfortschritt. IDS-Jahrbuch 2006: 169–202. Berlin/New York: De Gruyter.</p>","<p class="bodytext">Lenz, Alexandra N. (2008): <i>Wenn einer etwas gegeben bekommt.</i> Ergebnisse eines Sprachproduktionstests zum Rezipientenpassiv. In: Patocka, Franz/Guido Seiler (Hgg.): Morphologie und Syntax der Dialekte. Sammelband der Sektion „Morphologie und Syntax” der IGDD-Jahrestagung 2006 in Wien: 155–178. Wien: Edition Präsens.</p>","<p class="bodytext">Lenz, Alexandra N. (2009): On the perspectivization of a recipient role - crosslinguistic results from a speech production experiment. In: Fryd, Marc (Hg.): The passive in Germanic Languages. Groninger Arbeiten zur germanistischen Linguistik (GAGL 49): 125–144. [http://gagl.eldoc.ub.rug.nl/root/2009-49/2009-49-06/]</p>","<p class="bodytext">Lenz, Alexandra N. (2011): Zum <i>kréien</i>-Passiv und seinen „Konkurrenten” im schriftlichen und mündlichen Luxemburgischen. In: Gilles, Peter/Melanie Wagner (Hgg.): Linguistische und soziolinguistische Bausteine der Luxemburgistik (Mikroglottika 4): 5–27.</p>","<p class="bodytext">Lenz, Alexandra N. (2012): On the genesis of the German recipient passive – two competing hypotheses in the light of current diaelct data. In: Vogelaer, Gunther de/Guido Seiler (Hgg.): The dialect laboratory. Dialects as a testing ground for theories of language change: 121–138. Amsterdam: Benjamins (SLCS128).</p>","<p class="bodytext">Lenz, Alexandra N. (2013a): Three ”competing auxiliaries” of a non-canonical passive – on the German GET passive and its auxiliaries. In: Artemis Alexiadou/Schäfer Florian (Hgg.): Non-canonical passives: 63–94. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamin.</p>","<p class="bodytext">Lenz, Alexandra N. (2013b): Vom &gt;kriegen&lt; und &gt;bekommen&lt;. Kognitiv-semantische, variationslinguistische und sprachgeschichtliche Perspektiven. (Linguistik. Impulse &amp; Tendenzen 53.) Berlin/New York: De Gruyter.</p>","<p class="bodytext">Lenz, Alexandra N. (2016): On eliciting dialect-syntactic data. Comparing direct and indirect methods. In: Speyer, Augustin / Rauth, Philipp (Hg.): Syntax aus Saarbrücker Sicht. Beiträge der SaRDiS-Tagung zur Dialektsyntax (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik Beihefte. 165). Stuttgart: Steiner, 187–219.</p>","<p class="bodytext">MHWB = Mittelhessisches Wörterbuch (1985). Auf Grund der Mundart des Gießener Landes zusammengestellt. Von Emil Winter. Heuchelheim: Kulturring.</p>","<p class="bodytext">Zifonun, Gisela/Ludger Hoffmann/Bruno Strecker (1997): Grammatik der deutschen Sprache. (Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7.1–7.3.) Berlin/New York: De Gruyter.</p>","<p class="bodytext">ZW = Zwirner-Korpus. IDS. Datenbank für Gesprochenes Deutsch (DGD2). [URL: <a href="http://dgd.ids-mannheim.de/" target="_blank">dgd.ids-mannheim.de</a>]</p>",""],"verteilung":"<p class="bodytext">Das Dativpassiv ist eine relativ junge Konstruktion im deutschsprachigen Raum (vgl. Eroms 1978, Glaser 2005, Lenz 2012), die sich in den verschiedenen Teilarealen und dort in unterschiedlichem „vertikalen” Ausmaß auf der Dialekt-Standard-Achse entwickelt hat (vgl. Lenz 2007, 2008, 2009, 2011 und 2013a). Historische wie gegenwartssprachliche Korpusanalysen weisen das Westmitteldeutsche und das nordwestlich angrenzende Niederfränkische als areale Kernregion des Dativpassivs aus, von wo aus sich die Konstruktion ins angrenzende Ostmitteldeutsche und Niederdeutsche und erst verzögert auch in oberdeutsche Varietäten ausbreitet. Der Status des Westmitteldeutschen und des angrenzenden Niederfränkischen als Zentrum des Dativpassivs zeichnet sich nicht nur durch die höchsten Gebrauchsfrequenzen der Passivkonstruktion in diesem Raum aus, sondern auch dadurch, dass die Konstruktion hier die meisten Bildungsmöglichkeiten aufweist (vgl. etwa Lenz 2007). Noch weiter grammatikalisiert als in besagter Kernregion unter deutscher Überdachungssprache ist das Dativpassiv allerdings im Luxemburgischen (vgl. Lenz 2011). Während für weite Teile des deutschsprachigen Raums davon auszugehen ist, dass das Dativpassiv in den Dialekten weiter grammatikalisiert ist als in standardsprachnäheren Varietäten, ist im Westoberdeutschen (Alemannischen) eine andere Richtung der vertikalen Ausbreitung auszumachen. Insbesondere ein Vergleich aus Zwirner-, Pfeffer- und AdA-Ergebnissen („Atlas zur deutschen Alltagssprache”) stützt die These, dass es sich beim Dativpassiv um eine Konstruktion handelt, die im Schweizerdeutschen keine genuin-dialektale Verankerung aufweist (vgl. auch Bucheli Berger 2005, Glaser 2005, Lenz 2007), sondern dort vertikal gesehen „von oben”, nämlich aus der Standardsprache, in „tiefere” dialektale Sprechlagen wandert (vgl. Lenz 2013b: 508).</p>","pdfname":"SyHD-atlas_2017_Dativpassiv.pdf"}}